Eine brilliante Idee
0. Tib
»War es das wert, Tib?« fragte mich der Alte, während er mich zu dem Kanu brachte, mit dem ich meine letzte Reise antreten würde. »Zerstörung, Gewalt, Schmerz, Hunger. Und das alles nur für eine Idee. Für einen Wahn den du in unseren Gedanken erweckt hast.«
Ich wusste, dass er darauf keine Antwort wollte. Ich würde noch lange Zeit haben darüber nachzudenken. Beschämt schaute ich zu Boden, während ich die letzten Schritte über den Strand schlurfte. Es war eine brilliante Idee gewesen, voller Potential. Wie konnte sie nur so aus dem Ruder laufen? Und wieso gab es nie einen Punkt, an dem wir einfach aufhören konnten?
Ich stieg in mein Kanu. Sie gaben mir sogar genug Vorräte mit, um einen Monat überleben zu können. Das war mehr, als ich verdient hatte. Als ich das Kanu über den Strand ins mehr schieben wollte, stellte ich fest, dass es schwerer war als erwartet. Erst dann bemerkte ich den großen schwarzen Stein, dessen flach geschliffene Oberfläche mir vom Bug entgegenschien.
Schluchzend fiel ich in den Sand.
1. Jared
»Jared, das musst du dir ansehen«, rief mein Assistent mir von einem Hügel winkend entgegen. Wir waren erst gestern auf diese unkartierte Insel gestoßen. Nicht nur unkartiert, auch unbesiedelt, trotz vieler Anzeichen, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. Wie konnte das sein? Die Insel war groß und schien alle nötigen Ressourcen zum Überleben reichlich zu besitzen. Trotzdem hatten wir bisher nur Überreste von menschlichen Siedlungen gefunden, die mindestens seit Jahrzehnten verlassen waren.
Ich erklomm den Hügel, um zu sehen, was mein Assistent entdeckt hatte. Dann stockte mir der Atem. »Wie viele sind das?«, stammelte ich verstört. Vor uns lag ein Tal, in dem eine unfassbare Zahl an schwarzen Steinen in Form einer gigantischen Spirale angeordnet waren. Die Steine hatten alle eine ähnliche Größe und waren auf einer Seite glatt geschliffen. Was mich beeindruckte war vor allem das riesige Ausmaß der Steinspirale. Die Bewohner dieser Insel mussten unfassbar viel Arbeit in den Bau dieses Monuments gesteckt haben.
Nachdem wir die ersten Steinblöcke erreicht hatten, konnte ich mehr erkennen. Jeder Stein hatte ungefähr die Größe eines zehn-liter-Faßes, manche größer, manche kleiner. Zu zweit könnte man so einen Stein bestimmt anheben. Die Formen schienen größtenteils natürlichen Ursprungs und waren extrem uneinheitlich, nur die in der Spirale nach außen gewandte Seite war glatt behauen. Nicht ganz glatt. Da waren Muster zu erkennen. Oder waren das sogar Schriftzeichen? Aufgeregt sah ich mir die Steine näher an.
Tatsächlich, es handelte sich um eine Art Schriftzeichen. Die naheliegende Vermutung war, dass es sich um einen Friedhof handelte, mit den Namen der Verstorbenen auf den Steinen. Das wäre in der Tat eine Entdeckung: Ein indigenes Schriftsystem fernab jeglicher anderer Zivilisation! Und ein monumentales Denkmal für die Toten.
»Wenn man zur Mitte hin geht werden die Schriftzeichen undeutlicher. Es sieht so aus, als wären die äußeren Steinblöcke zumindest frischer beschriftet als die inneren. Ganz innen kann man die Zeichen kaum noch erahnen«, steuert mein Assistent hilfreich bei. Das wäre nicht der erste Friedhof, den man bei indigenen Völkern findet. Aber einer der größten und beeindruckendsten. Und ein Schriftsystem. Das wäre eine Entdeckung, die weltweit aufsehen erregen würde.
Das lässt die Frage nach dem Verbleib der Einwohner noch relevanter werden. Wie konnte eine Zivilisation, die sogar ein Schriftsystem entwickelt hatte, auf dieser Insel aussterben? Gab es eine Naturkatastrophe? Dann hätten wir wohl kaum Reste der Hütten gefunden. Gab es Invasoren? Dann hätte es Überlebende geben sollen, oder Invasoren die die Insel für sich beanspruchen. Eine Krankheit? Das wäre zumindest plausibel. Aber was für eine Krankheit tötet sämtliche seiner Wirte und erscheint so plötzlich, dass wirklich die ganze Bevölkerung daran zu Grunde geht?
Während ich noch am Grübeln bin hat sich mein Assistent bereits über die Schriftzeichen hergemacht. Das ist sein Element. Ich sehe seinem Gesicht Verwunderung an. »Was ist los?«, frage ich ihn. Er holt tief Luft. »Falls das ein Schriftsystem ist, ist es ziemlich banal. Es gibt nur 12 Schriftzeichen. Ich weiß nicht, wieviel Information man mit nur 12 Schriftzeichen sinnvoll festhalten kann, aber es scheint mir sowieso kein wirklicher Text zu sein. Vielmehr wirkt es wie ein Zahlensystem. Hier, jeder Stein ist exakt nach dem gleichen Prinzip beschriftet: Eine - nennen wir es Ziffernfolge - mit 6 Ziffern ist oben, es wirkt ein bisschen wie eine fortlaufende Nummerierung zwischen den Steinen. Darunter ist eine fünfstellige Ziffernfolge. Dann gibt es mehrere Zeilen mit nacheinander einer fünfstelligen, einer siebenstelligen und einer weiteren fünfstelligen Ziffernfolge. Und links auf jedem Block gibt es eine weitere Ziffernfolge, diese hat sogar 12 Stellen.«
Das klingt nach einem großen Streich. Als hätten die Erbauer dieses Monuments gewusst, dass eines Tages mathematisch begabte Wesen versuchen würden diesem einen Sinn abzuringen. Ist dieses Denkmal ein Rätsel für die Nachwelt? Ein Nummernsystem als Friedhof klingt jedenfalls unplausibel. Vielleicht müssen wir erstmal mehr dieser Insel erkunden, um zu verstehen was hier vor sich geht.
2. Tib
Die Idee war nicht einfach, aber faszinierend. Ihr müsst verstehen, wir haben auf einer einsamen Insel gelebt. Es gab keine Bibliothek, wo man sich geistig befriedigen konnte. Der Kopf sehnt sich aber nach intellektuellen Herausforderungen. Kanu- und Hüttenbau, Fischen, Jagen, Sammeln sind alles notwendige Tätigkeiten und auch körperlich erfüllend. Aber der Geist strebt nach mehr. Und dieses Mehr ist der Raum der Ideen. Als junger Mensch wird man ermutigt, sich an den Ideen und Geschichten der Alten zu sättigen. Aber das ist nicht genug. Die Jugend strebt nach Neuem.
Da ist es eigentlich nicht überraschend, dass jemand ein Finanzsystem entwickeln würde. So haben wir es natürlich nicht genannt. Wir hatten auch keine Ahnung was es bedeutet. Und vor allem, wo es uns hinführen würde. Aber zurück.
In unserer Inselgemeinschaft, bestehend aus mehreren Stämmen, gab es natürlich Austausch von Waren und Dienstleistungen. Menschen sind kollaborativ, aber nicht selbstlos. Jeder gibt, erwartet dafür aber auch etwas zu bekommen. Man handelt also mit Schulden. Ich bekomme etwas, dafür schulde ich der anderen Person etwas. Im eigenen Stamm ist das informell, jeder hat eine grobe Vorstellung davon, was er wem schuldig ist. Und wenn jemand dieses Schuldsystem zu sehr zu seinen Gunsten ausnutzt übt der Stamm in irgendeiner Form Druck auf ihn aus. Zwischen den Stämmen gab es durchaus Verhandlungen für größere Austäusche und bei großen Schulden wurden diese mit duplizierten Kerbhölzern festgehalten, um sie zu einem anderen Zeitpunkt zu kompensieren. Das funktioniert ganz solide, als Kontrollmechanismus hat man schließlich sein soziales Umfeld.
Aber das ist auch langweilig. Warum nicht etwas aufregenderes haben? Ein Zahlungsmittel, das man gegen Waren und Dienstleistungen umtauschen kann? Diese Idee war auch auf unserer Insel nicht neu, nur inpraktikabel. Was soll man denn als Zahlungsmittel nehmen, das man nicht beliebig fälschen oder in beliebiger Menge produzieren kann? Das ist natürlich nur ein vorgeschobener Grund. Eigentlich gab es einfach nur keinen Bedarf für ein solches Zahlungsmittel und unsere Alten sahen keinen Grund, so etwas Verrücktes auszuprobieren. Also haben wir das selbst getan.
Die relevante Frage war, wie für ein solches Zahlungsmittel garantiert werden konnte, während eine solche Währung gleichzeitig nicht beliebig erschaffbar sein durfte. Und hier kam mir die brilliante Idee: Die Steinkette. Um zu verhindern, dass jemand beliebig viel Währung erschafft oder für sich beansprucht, entwickelte ich ein System das notierte, welche Währung wohin ging. Der Einfachheit halber nannten wir unsere Währung Kies. Jeder Handel in Kies wurde in der Steinkette festgehalten. Das funktionierte wie folgt:
Adam will Bert ein Kies übertragen (für etwas, das sie ausgetauscht haben, Ware oder Dienstleistung). Dazu bekam jeder Kies-Händler eine fünfstellige Nummer. Und jeder Kies bekam eine siebenstellige Nummer. Um nun die Übertragung von einem Kies von einem Händler auf den anderen zu übertragen, musste das irgendwo festgehalten werden. Dazu verwendeten wir Steine. Schwarze Steine. Ihr ahnt es schon. Auf den Stein wurde geschrieben welcher Kies (7 Ziffern) von welchem Händler (5 Ziffern) auf welchen Händler (5 andere Ziffern) übertragen wurde.
Jetzt musste aber immer noch verhindert werden, dass Händler sich einfach beliebig viel Kies organisieren, indem sie sich selber Nummern von Kies zuordnen. Daher gab es nur eine Quelle von Kies: Das Aufstellen der Steine. Wer einen Stein mit Beschriftung aufstellte, bekam 12 Kies. Natürlich konnte nur ein neuer Stein aufgestellt werden, wenn der vorherige seine 24 Transaktionen voll hatte.
Die Kies hatten wie gesagt 7 Ziffern. Jeder Stein hatte eine sechsstellige Nummer, die einfach in aufsteigender Nummerierung lief. Der erste Stein (“Stein Null”) hatte die Ziffer #000000. Ich als erster Händler gab mir die Nummer #00001, alle anderen bekamen Zufallsnummern. Da ich den ersten Stein aufstellte gingen die ersten 12 Kies an mich. Und die hatten die sechs Ziffern des Steins (#000000) und jeweils die Ziffern von 0-11. Wieso bis 11? Wir hatten ein Basis-12 Zahlensystem. Sprich eine 10 bei uns entspricht einer 12 bei euch. In euren Ziffern gab es also die 12 Kies #0000000, #0000001,… #0000009, #000000A, #000000B. Die konnte ich jetzt beliebig an andere Händler weitergeben, indem ich auf den Stein Null schrieb:
#00001 -> #0000005 -> #12345.
Damit gehörte jetzt einer meiner Kies (#0000005) offiziell dem Händler der Nummer #12345.
Klingt kompliziert? Es kommt noch eins dazu: Wie verhindert man, dass jemand im Nachhinein einen Stein austauscht und eine Transaktion fälscht? Das war meine geniale Idee: Aus den Transaktionen auf einem Stein berechnete sich eine Zahl, die auf dem darauffolgenden Stein vermerkt wurde. Diese Zahl nannten wir die Steinziffer. Sie hat 12 Ziffern und ist nicht zu verwechseln mit der aufsteigenden Nummerierung jedes Steins (6 Ziffern). Durch einfaches Nachrechnen konnte man damit verifizieren, dass der Stein nicht ausgetauscht oder verändert wurde.
Die Steinziffer des neuen Steins berechnete sich vom vorherigen Stein wie folgt:
Steinziffer (12 Ziffern) + Summe(Kiesnummer*Händlernummer(neuer Besitzer))
Von der resultierenden Zahl wurden dann die letzten 12 Ziffern als neue Steinziffer verwendet. Die Tüftler unter euch entdecken jetzt schon die Lücken einer so einfachen Rechnung. Aber ihr müsst sehen, dass es als Spaßprojekt unter Freunden gestartet hat. Wenn du dir das soziale Umfeld mit allen Händlern teilst ist die Schwelle zum Betrug ziemlich hoch.
Um es nochmal zusammenzufassen: Ein Stein sah aus wie folgt:
#001234 (laufende Nummer)
#15586 (aufstellender Händler, bekommt 12 Kies für den Stein)
#1234567890ab (Steinziffer)
24 Transaktionen:
#00001 -> #0001235 -> #12345
#00001 -> #00009a5 -> #a8621
#12345 -> #0001235 -> #a8621
Aus diesen Nummern (ohne die laufende Nummer) wurde die Steinziffer für den nächsten Stein bestimmt. Und wer auch immer diesen Stein aufgestellt hatte bekam 12 Kies gutgeschrieben mit den Nummern #0012340 bis #001234b. Am Anfang war das auch für uns noch konfus, aber nach einigen Startschwierigkeiten funktionierte es gut. Überraschend gut.
3. Jared
Mittlerweile haben wir gefühlt die halbe Insel erkundet. An unterschiedlichen Stellen scheint es mal Besiedlungen gegeben zu haben. Manche Buchten sind dafür prädestiniert. Aber keine lebendigen Bewohner und nur verfallene Überreste von menschlichen Konstruktionen.
»Ist es dir schon aufgefallen?«, fragt mein Assistent. »Was meinst du?« »Die Steine.« Ich überlege worauf er hinaus will. Es gibt Felsen und Steine um uns herum, aber ich sehe nichts besonderes daran. Auch einige der Hütten hatten teilweise Steinfundamente. Ich hebe einen Stein auf. Einen schwarzen. Dann sehe ich es.
Der schwarze Stein ist so groß, dass er gut in meine Hand passt. Es gibt einige davon. Es gibt auch viele kleinere. Aber es gibt keine schwarzen Steine in der Größe der Blöcke auf dem vermeintlichen Friedhof.
»Seit gestern halte ich meine Augen offen«, sagt mein Assistent. »Und ich habe noch keinen einzigen Stein gesehen, der groß genug wäre, um dort als Grabstein zu dienen.«
»Es muss irgendwo einen Steinbruch geben. Oder unter Wasser gibt es mehr von diesen Steinen?« Die Alternative ist ungeheuerlich. Dass die Einwohner sämltliche schwarzen Steine in der richtigen Größe über die ganze Insel zum Friedhof gebracht hätten scheint mir weit hergeholt.
4. Tib
Wie gesagt, es fing als Spaßprojekt zwischen mir und meinen Freunden an. Wir handelten Kies gegen Gefallen, Essen, schöne Holzstücke und sogar Perlen. Wir waren auf einer Insel mit relativ solidem Klima. Es gab nicht viel aufregendes zu tun. Ich weiß, das klingt nach einer schlechten Erklärung dafür seine Zeit mit dem Gravieren von Felsblöcken zu verbringen. Aber es war aufregend. Und irgendwie fühlte ich mich … mächtig? Ich hatte Kies und konnte den gegen viele Sachen eintauschen.
Da auf unserer Insel sozusagen sonst nichts wirklich aufregendes passierte ist es vermutlich gar nicht so überraschend, dass immer mehr Jugendliche das Spiel der Steine und Zahlen lustig fanden und mit Kies handelten. Zum Glück hatten wir uns einen guten Ort für den ersten Stein ausgesucht und die Steine von Anfang an in einer rotierenden Reihe angeordnet, sodass wir einfach weiter neue Steine an die Reihe anbauen konnten, bis eine kleine Spirale entstand.
Natürlich brauchten wir langsam mehr Platz und so mussten wir einige Bäume entfernen. Aber was eigentlich viel absurder war: Die Steine wurden knapp. Also nicht wirklich. Aber während wir dort an Ort und Stelle am Anfang noch jede Menge Steine der richtigen Größe hatten, musste man jetzt immer weiter gehen, um einen neuen Stein zu holen. Wir hatten beschlossen, dass die Steine nicht zu klein sein dürfen und aus dem gleichen, schwarzen Gestein sein müssen. Dementsprechend wurde es nach und nach aufwendiger, neuen Kies zu erzeugen (den es ja nur für neu aufgestellte Steine gab). Außerdem konnten mit einem Stein nur 24 Transaktionen durchgeführt werden, also konnten wir plötzlich nicht mehr beliebig schnell handeln.
Im Nachhinein ist der Effekt lächerlich. Aber natürlich wurde damit unser Kies mehr wert. Und alle, die zuerst Kies hatten fühlten sich so wie ich. Als könnten wir uns alles auf der Insel leisten.
5. Jared
Wir sind wieder zurück in der Bucht, in der wir zuerst gelandet sind. Meine Mitreisenden haben mittlerweile an vielen Stellen menschliche Überreste gefunden, größtenteils verwitterte Knochen. Und die ersten Betrachtungen sind unschön.
Zuerst ist das eigentlich Überraschende, dass die menschlichen Überreste nicht auf dem vermeintlichen Friedhof sind. Soviel also zu der Theorie. Stattdessen wurden sie unter verschiedenen bedenklichen Umständen gefunden. Teilweise einfach im Wald, teilweise zu mehreren in Gruppengräbern verscharrt, vereinzelt in markierten, aber schlichten Gräbern. Nicht das, was ein Erforscher indigener Völker gewohnt ist. In der Regel werden Tote entweder geehrt oder gefürchtet und ordentlich begraben oder verbrannt. Außer es handelt sich um Feinde oder es gab keine Zeit oder Ressourcen.
Genau darauf weisen auch die Spuren an den Skeletten hin. Einkerbungen, unnatürliche Verrenkungen, zerstörte Skelette. Bei vielen Entdeckungen deutet alles auf gewalttätige Tode hin.
Hatten sich die Einwohner bis auf den letzten Mensch bekriegt und damit selbst ausgelöscht? Wir sollten noch an anderen Stellen nach Spuren suchen. Aber bisher schien das die plausibelste Erklärung. Aber was hatte das mit dem Steinmonument zu tun? Um das zu bauen brauchte es viele Menschen und viel Zeit. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dafür vermutlich Steine von der ganzen Insel angeschleppt wurden?
Wieso sollte eine Gesellschaft so einen kollaborativen Akt stemmen und sich dann selbst auslöschen?
6. Tib
Meine Freunde und ich waren reich. Bevor es Kies gab, wusste niemand was das überhaupt bedeutet. Aber für uns hieß es wir konnten Gefallen und Waren einfordern, wie wir wollten, über die ganze Insel hinweg. Und natürlich nutzten wir das, was dazu führte, dass noch mehr Menschen Kies benutzen wollte, wodurch unser Kies noch wertvoller wurde.
Nun ist so eine Insel natürlich ein bisschen beschränkt in dem, was man sich mit Reichtum kaufen kann. Aber natürlich hat jede Gesellschaft irgendwann Alkohol und Halluzinogene entdeckt. Nur gab es diese nur in geringem Ausmaß und die Halluzinogene waren streng für die Alten rationiert. Aber mit unserer neuen Kiesmacht war das plötzlich kein Hindernis mehr. Mit Kies konnten wir Anreize schaffen, mehr Alkohol zu produzieren und Halluzinogene zu entwenden.
Ihr ahnt wo das hinführt. Wir feierten Parties. Etwas, dass es außerhalb streng vordefinierter Rituale nicht gab. Wir nahmen Drogen. Wir betranken uns. Und irgendwie wurden wir dadurch noch reicher. Viele Menschen wurden von den Parties angezogen und so nahm das Interesse an Kies, Drogenproduktion und der Steinkette noch weiter zu. Die Alten konnten nur zusehen oder mitmachen. Einige Visionäre wussten, wie das enden würde und zogen sich zurück. Aber die meisten Bewohner sahen einfach nur ein System, das allen das Leben angenehmer und aufregender machte.
7. Jared
»Jared, komm mal mit, das musst du unbedingt sehen.« Mein genialer, sonst so ruhiger Assistent kommt aufgeregt angelaufen und zieht mich mit. »Was hast du gefunden? Einen lebendigen Menschen?« »Komm einfach mit, es wirkt besser, wenn man es sieht.«
Mein Assistent hat recht. Die Wirkung ist eindrucksvoll. Ich muss mich hinsetzen und das Skelett aus einiger Entfernung betrachten. Es ist schon leicht verwittert, wird aber von einem Gerüst aus Steinen und Holz aufrecht gehalten. Es steht auf einer Klippe und schaut in die Ferne. Wären wir aus der anderen Richtung angesegelt hätten wir es schon von weitem sehen können.
Aber das eigentlich Eindrucksvolle ist die Symbolik. An der Hand ist ein Hammer befestigt, gefertigt aus Holz mit einem Stück Stein als Kopf. Und unter dem Skelett, beziehungsweise dem Hammer, befindet sich ein Haufen von zertrümmerten schwarzen Steinblöcken, genau solchen die wir auch auf dem vermeintlichen Friedhof gefunden haben.
Die Aussage ist nicht ganz klar. Ganz sicher ist es eine Botschaft an uns, dafür ist der Ort und die Position des Skeletts ziemlich klar gewählt. Aber ist die Botschaft, dass es hier hängt, weil es die Steinblöcke angegriffen hat? Oder ist das Skelett hier, weil die ursprünglichen Bewohner die Steintafeln nicht zertrümmert haben und bedeutet, dass wir die symbolischen Steintafeln zertrümmern sollen?
Um nochmal zu rekapitulieren: Es gab einen Konflikt auf dieser Insel, der vermutlich die Einwohner zum Aussterben gebracht hat. Er hatte irgendwas mit den Steintafeln zu tun. Wenn das hier der letzte Überlebende war, dann kann die Aussage eigentlich nur eine Warnung sein, die uns erklären soll, dass die Steintafeln zur gewalttätigen Selbstauslöschung geführt haben. Wenn wir mal göttliche Intervention ausschließen muss das bedeuten, dass wir uns nicht wegen irgendwelcher Steintafeln zerfleischen sollen? Das klingt schon fast ein bisschen biblisch.
8. Tib
Es ist schwer zu sagen, wann das ganze anfing schief zu gehen. Vermutlich schon, als ich den ersten Steinblock setzte. Oder als der erste Kies überwiesen wurde. Als die Steinkette wuchs, gab es einfach keinen Zeitpunkt, zu dem man einfach aufhören konnte. Dafür hingen wir alle zu sehr an unserem Kies.
Als die ersten an Überdosis von Drogen starben oder sich im Rausch von einer Klippe stürzten war das bedauerlich, aber kein Grund mit der Steinkette und den Parties aufzuhören. Wenn überhaupt wurde dadurch noch mehr Alkohol konsumiert. Sicher, einige Menschen wachten auf aus diesem Traum und versuchten uns zu überzeugen, endlich mit diesem Wahn aufzuhören. Es gab sogar Versuche die Steinkette zu zerschlagen, die wir natürlich verteidigen mussten. Plötzlich hatten wir die ersten gewaltätigen Konflikte, bei denen Menschen starben.
Viel passierte auf einmal: Übermäßiger Drogenkonsum, Vernachlässigung von Lebensmittelernte (Jagd, Fischen, Sammeln, Anbau), traurig-zornige Eltern, Neid auf die Kiesreichen, Rachegelüste. Es gab damit Konflikte auf jeder denkbaren Achse. Manche Stämme fingen einen Krieg gegen ihre Nachbarn an. Mein Stamm war ursprünglich der größte Stamm der Insel, zog mit mir aber auch die meisten Aggressionen an. Ich weiß bis heute nicht, warum es niemand geschafft hat mich umzubringen. Vermutlich haben meine Alten trotz allem ihre schützenden Hände über mich gehalten.
9. Jared
»Aber das macht doch keinen Sinn. Das waren doch Menschen, die sogar ein symbolisches Zahlensystem und Mathematik entwickelt haben. Wie sollen die sich bis auf den letzten Mann auslöschen. Irgendwann muss doch der Verstand einsetzen und die übrigen Menschen müssen sich auf ein neues Leben einigen. Das ist doch überall so passiert.« Mein Assistent sprach hier genau meine Gedanken aus. Es schien einfach unvorstellbar, dass sich eine Gesellschaft ohne Nahrungsmittelnot so vollständig auslöschen sollte.
»Wir müssen wohl trotzdem davon ausgehen, dass es passiert ist. Vielleicht kamen noch andere Faktoren dazu. Eine Krankheit wäre plausibel, vor allem nach einem Konflikt.« So ganz zufriendenstellend fand ich die Aussage auch nicht. Auf der anderen Seite ist es zwar unwahrscheinlich, dass sich eine Bevölkerung selbst aus Versehen ausradiert, aber nicht unmöglich. Irgendwo auf der Welt ist es bestimmt passiert. Warum dann nicht ausgerechnet hier?
A. Tib
Letztendlich zerfleischten wir uns gegenseitig, in der Todesspirale aus Drogen, Rache und Lebensmittelnot. Jeder vernünftige Mensch wird uns für bescheuert halten. Aber ihr wisst vielleicht nicht, was Drogen oder der Entzug davon mit Menschen macht. Und ihr wisst nicht, zu was rachelustige Eltern oder Kinder in der Lage sind. Eigentlich hätte es irgendwann aufhören müssen. Stattdessen gab es irgendwann nur noch zwei Faktionen, die für Kies und die dagegen. Und die hatten sich nicht mehr viel zu sagen, dafür hatte es bereits zu viel Grausamkeiten gegeben. Der Konflikt ging bis nur noch eine Faktion stand. Das war die Faktion, die gegen Kies war.
Sie richteten die restlichen Kieshändler und Angehörigen hin. Nur ich wurde verschont. Ihnen fiel keine Strafe ein, die sie für grausam genug erachteten. Daher wollten sie mich unseren Göttern überantworten, indem sie mich mit einem Kanu davonfahren ließen. Das klingt gnädig. Aber wart ihr mal allein, nur mit euch selbst, für Wochen? Auf dem Meer? Auch im Dunkeln? Mit limitierten Vorräten und ohne Land in Sicht?
B. Jared
Mein Assistent hat das Muster in den Steinen entschlüsselt. Es scheint eine Art Kassenbuch gewesen zu sein, um zu verfolgen welches Geld wohin fließt. Es wird ihn und viele Studenten einige Zeit kosten herauszufinden, wie das Geld von wem zu wem geflossen ist. Ein erster Eindruck zeigt aber, dass die ersten Teilnehmer des Systems an den meisten Transaktionen beteiligt waren. Vermutlich gab es also wirklich eine reiche Klasse?
Wirklich beeindruckend ist, dass jemand auf so ein ausgefeiltes System gekommen ist. Mein Assistent meint, dass die Mathematik grundsätzlich nicht beeindruckend ist, aber für ein sonst unspektakuläres Inselvolk ihrer Zeit weit voraus wäre. Irgendwie zirkuliert dieser letzte Satz noch in meinem Hinterkopf. Ihrer Zeit weit voraus. Das klingt, als könnte dieses System wiederauferstehen.
Schaudernd denke ich an die letzte Warnung des Skeletts. Wie können wir es nur schaffen die schwarzen Steine zu zertrümmern, wenn es eine so kleine Gesellschaft nicht geschafft hat?
10. Tib
Mit zuckendem Körper und Tränen über dem Gesicht schiebe ich mein Kanu in die See. Ich versuche mit aller Macht, nicht auf den schwarzen Stein direkt vor mir zu blicken. Nach ein paar Ruderschlägen traue ich mich noch ein letztes Mal zurückzusehen. Am Strand sehe ich die letzten Überlebenden unsere Insel. Sie sehen alt aus. Alle jungen Bewohner haben wir zugrunde gerichtet. Mit Drogen, Konflikt und Rache.
Der Stein vor mir zieht meinen Blick an. Ich fühle mich schuldig. Dabei habe ich doch nur eine gute Idee gehabt. Eine brilliante Idee.
Der Stein schreit mich an.
Ich ziehe konstant an meinem Paddel. Ich habe ein weiten Weg vor mir. Viel Wasser. Aber ich habe ein Ziel. Die Welt muss vor meiner brilianten Idee gewarnt werden.